Hörverlust kann bislang nur mit Prothesen wie Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten behandelt werden. Eine neuartige Gentherapie könnte in bestimmten Fällen zukünftig eine Alternative bieten. Aufbauend auf Pionierarbeiten von Forscher*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) wurden erstmals Kinder mit dieser Gentherapie behandelt, die an einer Synapsen-bedingten Schwerhörigkeit leiden. Bei dieser Erkrankung können die Haarsinneszellen im Innenohr die Schallinformationen nicht mehr an den Hörnerv weiterleiten.
Die Schwerhörigkeit betrifft laut Center for Disease Control and Prevention (CDC) etwa ein bis zwei von 1.000 neugeborenen Kindern und ist damit eine der häufigsten angeborenen Sinnesbeeinträchtigung. Über 140 verschiedene Gene sind derzeit bekannt, deren Defekte zu Hörminderung führen. Ein solcher genetischer Defekt liegt bei der Otoferlin-bedingten Schwerhörigkeit vor. Der Gendefekt verhindert bei den Betroffenen die Bildung des Proteins Otoferlin. Dieses ist an der Weiterleitung der Schallinformationen von den Haarsinneszellen im Innenohr auf den Hörnerv beteiligt. Fehlt das Otoferlin, kann der Schall an den Kontaktstellen zwischen Haarsinneszellen und Hörnerv, den sogenannten Synapsen, nicht weitergleitet werden. Die Schallinformation gelangt somit nicht zum Hörzentrum im Gehirn. Aus diesem Grund können Betroffene nichts hören.
Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und Sprecher des Göttinger Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC), und sein Team haben vor etwa 20 Jahren in Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Christine Petit, Pasteur Institut, Paris, diese Schlüsselrolle des Otoferlins an den Synapsen nachgewiesen.
Seither haben Prof. Tobias Moser und Wissenschaftler*innen des ehemaligen Göttinger Sonderforschungsbereichs 889 „Zelluläre Mechanismen der sensorischen Verarbeitung“ und des Exzellenzclusters MBExC, beides Förderprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, maßgeblich zur Aufklärung der Funktion von Otoferlin und zum Verständnis synaptischer Krankheitsmechanismen im Innenohr beigetragen. Anders als bei anderen Formen der genetischen Schwerhörigkeit, bleiben die Haarsinneszellen der Hörschnecke dennoch über Jahre erhalten, so dass eine ursächliche Therapie möglich ist. Ähnliche Krankheitsmechanismen wurden inzwischen auch für weitere genetische und erworbene Formen der Schwerhörigkeit nachgewiesen.
Vor zirka sieben Jahren ist es Prof. Dr. Ellen Reisinger, inzwischen Professorin an der Universität Tübingen, und weiteren Wissenschaftler*innen des Göttinger InnenOhrLabors sowie des Sonderforschungsbereichs 889 gelungen, das Hören bei tauben Mäusen mit Otoferlin-bedingter Synapsen-Schwerhörigkeit mittels Gentherapie teilweise wiederherzustellen. Dabei wurde der korrekte genetische Bauplan für die Herstellung des Proteins Otoferlin mittels nicht-krankmachender Viren in die Haarsinneszellen der Hörschnecke eingeschleust und eine teilweise Wiederherstellung der Synapsen- und Hörfunktion nachgewiesen. Seither wurde in Göttingen und an vielen anderen Orten weiter intensiv an diesem therapeutischen Ansatz geforscht, so auch am Göttinger Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ). Hier soll die Wirksamkeit und Sicherheit der Gentherapie nun auch an genetisch veränderten Weißbüschelaffen mit Otoferlin-bedingter Schwerhörigkeit weiter erforscht werden.
In einem weltweiten Wettstreit mit maßgeblicher Beteiligung von Start-Up-Unternehmen in den USA, Frankreich und China wurde intensiv an der Übertragung des gentherapeutischen Ansatzes zur Anwendung bei Patient*innen gearbeitet. Kürzlich wurden erste klinische Studien zur Gentherapie für die Otoferlin-bedingte Synapsen-Schwerhörigkeit begonnen und inzwischen vielversprechende erste Ergebnisse veröffentlicht (DOI: 10.1002/advs.202306788; DOI: 10.1016/S0140-6736(23)02874-X). Bislang konnten keine ernsten unerwünschten Wirkungen der Gentherapie festgestellt werden. Wie aus den Arbeiten am Mausmodell abgeleitet, konnten die mit der Gentherapie versorgten, vormals hochgradig schwerhörigen oder tauben Kinder Schall und Sprache wahrnehmen. Es liegen aktuell noch keine ausreichenden Daten darüber vor, wie gut das Sprachverstehen im Alltag ist.
Auch an der UMG und am Göttinger Exzellenzcluster MBExC wurde inzwischen ein Patient*innenregister für die Otoferlin-bedingte Synapsen-Schwerhörigkeit eingerichtet, um betroffene Familien umfänglich zu informieren und in der Zukunft eine optimale Gentherapie anbieten zu können. Die Chancen stehen gut, dass zumindest für einige Formen der Taubheit eine Heilung möglich sein wird.
Der Machbarkeitsnachweis für die Gentherapie des Innenohres ist auch von großer Bedeutung für die Entwicklung des optogenetischen Cochlea-Implantats. Diese Technologie wird seit 2008 in Göttingen entwickelt und soll unabhängig von der Ursache der Taubheit ein besseres Hören als die aktuell üblichen elektrischen Cochlea-Implantate erlauben. Dabei werden mittels der Gentherapie des Innenohrs lichtempfindliche Eiweiße in den Hörnerv eingebaut, so dass dieser durch Lichtreize eines optischen Cochlea-Implantats aktiviert werden kann – Hören mit Licht wird möglich.
„Wir stehen nach vielen Jahren der Forschung erstmals am Beginn einer ursächlichen Therapie von Erkrankungen des Innenohrs. Göttinger Forschung unter anderem am Exzellenzcluster trägt maßgeblich dazu bei“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser.
Weitere Informationen:
Informationen zum Patientenregister für Otoferlin-bedingte Synapsen-Schwerhörigkeit:
http://www.auditory-neuroscience.uni-goettingen.de/registry_info.html
KONTAKT
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Institut für Auditorische Neurowissenschaften
Prof. Dr. Tobias Moser
Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen
Telefon 0551 / 39-63071
tmoser[at]gwdg.de
Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging (MBExC)
Dr. Heike Conrad (Kontakt – Pressemitteilung)
Telefon 0551 / 39-61305
heike.conrad[at]med.uni-goettingen.de
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